Liam

Mein Mann Liam und ich lebten seit 30 Jahren in der Nähe von Köln. Seine Eltern und Geschwister leben in Dublin. Liam pflegte die familiären Bande, sie nahmen einen hohen Stellenwert in seinem Leben ein – auch sein Heimatland Irland bedeutete ihm sehr viel. Dort wurde seit einigen Jahren massiv für türkische Ferienimmobilien in den Medien geworben, die großen Appartementblocks in Alanya wurden von der irischen Firma IPI gebaut und vermarktet. So kauften sich auch seine ältere Schwester und ihr Mann im Jahre 2006 eine Ferienwohnung an der „türkischen Riviera“ und luden uns zum gemeinsamen Urlaub dorthin ein. Nach anfänglichem Zögern stimmten wir zu. Mein Mann und ich wollten eine Woche bleiben – für Sonntag 10. Juni 2007 war der Rückflug gebucht. Meine Schwägerin und ihr Mann flogen am 01. Juni 2007 von Dublin nach Köln und blieben noch zwei Tage bei uns zu Hause. Unsere Tochter brachte uns vier dann am Abend des 3. Juni 2007 mit dem Auto zum Bahnhof, von dort fährt die Regionalbahn direkt zum Flughafen Köln-Bonn. Als wir auf den Zug warteten, fotografierte sie uns. Es sollte das letzte Mal sein, dass sie ihren Vater lebend sah. Wir flogen dann einige Stunden später mit German Wings nach Antalya und kamen gegen drei Uhr morgens dort an. Weiter ging es mit einem Minibus ins zwei Stunden entfernte Alanya, Stadtteil Oba, und so erreichten wir schließlich die in dem Häuserblock „Sultan Appartments“ gelegene Wohnung. Wir verbrachten wunderschöne Urlaubstage mit Wochenmarktbesuch in Oba, Schwimmen im wunderschönen warmen Mittelmeer, Besichtigung der Stadt Alanya mit ihren freundlichen Bewohnern und den vielen Bazaren. Wir ließen uns zu einer Schiffstour rund um den im Meer stehenden Felsen mit der Burg von Alanya überreden, machten einen Tagesausflug mit Besichtigung einer großen Höhle und fuhren zum Fluss „Dimschai“. Als Attraktion liegen auf diesem Fluss Pontons, die zu flachen Speisetischen und Ruhebänken umfunktioniert sind. Das Essen in diesem Flussrestaurant dauert Stunden und ist köstlich. Im Anschluss daran wären wir noch gerne an „unserem“ Strand schwimmen gegangen, aber das Meer war an diesem Tag zu rau zum Baden. Dies erfuhr ich durch einen älteren einheimischen Mann, indem wir uns durch Gesten verständigten. So wurde dann der nächste Tag, ein Donnerstag, als Strandtag eingeplant. Am Vormittag mieteten wir uns Strandliegen und Sonnenschirme und machten es uns bequem. Das Meer schien immer noch etwas unruhig zu sein – es war jedoch zu diesem Zeitpunkt niemand in Reichweite, den man hätte fragen können. Mein Schwager und ich gingen also ins Wasser. Mein Mann hatte seine Digitalkamera mitgebracht und wollte erst einmal seinem Hobby nachgehen und Fotos schießen. Kurz nachdem ich ins Meer gegangen war, spürte ich den Sog des Wassers ins offene Meer, der mich erschreckte, und ich beschloss, an Land zu gehen. Mein Schwager schwamm eine ganze Weile, ehe er das Wasser verließ. Für den nächsten Tag, Freitag, hatten wir ein „Türkisches Bad – Hamam“ im nahe gelegenen Hotel gebucht. Wir genossen die ausgiebigen Prozeduren und fühlten uns wie neugeboren. Inzwischen war es schon 16 Uhr geworden und wir schlenderten zur Wohnung zurück und holten unsere Badesachen. Wir wollten die wenigen verbleibenden Urlaubstage noch intensiv mit Schwimmen nutzen. Wir gingen also auf der Uferpromenade entlang und sahen aufs Meer hinunter. Es waren nur leichte Wellen zu sehen, die auf Laien absolut harmlos wirkten. Mein Mann und mein Schwager gingen gemeinsam ins Wasser, meine Schwägerin machte es sich am Strand bequem und ich ging ebenfalls schwimmen. Plötzlich spürte ich wieder, ähnlich wie am Vortag, wie eine Unterströmung mich ins Meer hinausziehen wollte. Ich hatte keine Lust, diesen unheimlichen Nervenkitzel noch einmal zu fühlen und verließ das Wasser. Inzwischen war es 18 Uhr und es befanden sich nur noch einige wenige Menschen im Wasser. Ich drehte mich suchend nach meinem Mann um und sah ihn in ca. 20 Metern Entfernung im Meer schwimmen, mein Schwager schwamm zu dem Zeitpunkt noch einige Meter weiter draußen. Plötzlich hörte ich meinen Mann laut um Hilfe rufen – in Bruchteilen von Sekunden schoss mir durch den Kopf, dass das nicht die Realität sein konnte, dass er nicht ernsthaft in Schwierigkeiten war. Reflexartig drehte ich mich zum Strand um und rief laut um Hilfe. Dann sprang ich sofort wieder ins Wasser und schwamm auf meinen Mann zu. Ich erreichte ihn bereits nach einigen Minuten (hatte mich die Strömung hinausgetrieben?) und schrie ihn in meiner Panik an, er solle sich zusammenreißen und wir würden jetzt gemeinsam zurück ans Ufer schwimmen – aber ihn hatte wohl schon die Kraft verlassen. Zu stark war der Kampf gegen den Sog ins offene Meer, der nun auch mir schwer zu schaffen machte. Endlich erreichten uns einheimische Badegäste, die meinen Mann unter die Arme griffen. Sie hatten ebenfalls schwer mit der Unterströmung zu kämpfen. Als wir endlich den Strand erreichten, war mein Mann bewusstlos. Keiner der Anwesenden kannte sich in Erster Hilfe aus, laienhafte Wiederbelebungsversuche scheiterten. Wenn jetzt professionelle Hilfe und Rettungsmittel am Strand gewesen werden, hätte er sicher noch eine Überlebenschance gehabt. Es verstrichen nochmals kostbare Minuten, ehe die Männer meinen Mann den Strand hinauf zur Straße trugen. Endlich kam der Krankenwagen und fuhr mit ihm davon. Meine Schwägerin, Schwager und ich stiegen in ein Taxi und fuhren quer durch die Stadt hinterher. Als wir endlich am Krankenhaus ankamen, wurde mein Mann, mit einem weißen Leinentuch abgedeckt, auf einer Trage an uns vorbei geschoben. Man bedeutete uns, dass er nicht mehr zu retten gewesen sei. Ich konnte das nicht begreifen! Kein Mensch, der solch eine schreckliche Situation nicht selber erlebt hat, kann nachvollziehen, in welch schockartigem Zustand ich mich befand. Es war die Hölle! Im Polizeiwagen mussten wir zur Wohnung fahren und unsere Pässe holen. Anschließend wurden wir zu einem großen Friedhof gefahren, wo sich eine Kühlhalle befand. Dorthin hatte man die Leiche meines Mannes gebracht. Plötzlich erschienen Journalisten von der örtlichen Zeitung und Mitarbeiter eines türkischen Fernsehsenders und baten uns um ein Interview. Sie sagten, es sei sehr wichtig, dass die Öffentlichkeit über die fehlenden Sicherheitsvorkehrungen an den Stränden informiert werde. Mein Mann sei nicht das erste Ertrinkungsopfer in diesem Jahr. In den vergangenen Wochen seien schon drei Schwimmer vor der Küste Alanyas ums Leben gekommen und die Politiker müssten endlich handeln. Nach anfänglichem Zögern erklärte sich mein Schwager bereit, ein Interview vor laufender Kamera zu geben. Zwei Tage später war in den örtlichen Zeitungen zu lesen, dass mein Mann nicht das einzige Ertrinkungsopfer in der türkischen Ferienmetropole Alanya sei. Sie berichteten, dass allein im Juni 2007 nur in dieser Region drei Personen im Meer ertrunken seien. Zwei von ihnen Touristen, der dritte Ertrunkene ein türkischer Jugendlicher. Andere Zeitungen schrieben von durchschnittlich drei Ertrinkungsopfern pro Woche allein im Bereich Alanya. „Nun wird endlich diskutiert: Wo sind die Rettungsschwimmer?“ fragen die Zeitungen. „Die Badegäste an den Stränden warten“, so die örtlichen Medien, „gespannt darauf, wann sich das endlich einmal ändert.“ Einheimische Leser melden sich zu Wort: „Es werden keine Sicherheitsvorkehrungen gegen derartige Gefahren getroffen. Wenn das hier so weiter geht, werden wir noch viele Menschen verlieren. Es sind dringend Maßnahmen notwendig.“

Ich wurde noch in derselben Nacht von einem Staatsanwalt verhört. Anwesend waren eine Dolmetscherin und die Ärztin, die meinen Mann untersucht hatte und als Todesursache „Ertrinken“ in den Papieren vermerkt hatte. Die Dolmetscherin riet mir, keinerlei Zweifel am Unfallhergang aufkommen zu lassen, um den Verdacht eines eventuellen Fremdverschuldens nicht aufkommen zu lassen, da sonst die Leiche meines Mannes obduziert werden würde. Das hätte bedeutet, dass sie erst Wochen später zur Überführung nach Deutschland freigegeben worden wäre. Eine Schreibkraft führte Protokoll. Später wurden meine Schwägerin, mein Schwager und ich auf einer Polizeiwache ein weiteres Mal verhört. Die Dolmetscherin leitete alle notwendigen Formalitäten zur Überführung meines Mannes in die Wege und beschwor uns nach Deutschland zurück zu fliegen, um die Beerdigung vorzubereiten. So trat ich am Sonntagmorgen den Rückflug nach Deutschland an - ohne meinen Mann – stattdessen flogen nun seine Schwester und ihr Mann mit mir zurück nach Deutschland.

Mit Hilfe meiner beiden trauernden Kinder bereiteten wir alles für seine Beerdigung vor. Mein Mann wurde schon am darauf folgenden Dienstag nach Deutschland überführt. Ich begleitete den Mitarbeiter vom Beerdigungsinstitut, als er den Sarg am Köln-Bonner Flughafen abholte. Die Beerdigung fand genau eine Woche nach seinem Ertrinkungstod statt. Es war eine große Beerdigung, weil mein Mann bei Freunden und Kollegen sehr beliebt und geschätzt war. Auch seine Geschwister mit Ehepartnern und Kindern kamen aus Irland angereist. Ich war überwältigt von der großen Anteilnahme, die meine Kinder und ich erfuhren. Als der Alltag wieder einkehrte, konnte ich den Leidensdruck, unter dem ich stand, kaum ertragen. Es gab für mich nur zwei Alternativen: entweder meinem Leben ein Ende setzen oder kämpfen. Ich wählte die zweite Alternative und suchte Hilfe bei Freunden und durch das Internet. Mir wurde immer mehr bewusst, dass mein Mann noch leben würde, wenn es am Strand Warnungen vor den Strömungen und Sicherheitsvorkehrungen gegeben hätte. Die Dolmetscherin, zu der ich nach wie vor Kontakt hatte, riet mir, an den Landrat von Alanya zu schreiben und ihn um die Einführung von Sicherheitsmaßnahmen am Strand zu bitten. So kam ich auf die Idee, alle Menschen, die meinen Kindern und mir kondoliert hatten, um solch ein Schreiben, adressiert an den Landrat, zu bitten. Ich erhielt im Laufe der folgenden Wochen über 130 Briefe und zwei große Unterschriftenlisten. Einen großen Teil der Briefe ließ ich ins Türkische übersetzen. Außerdem informierte ich die Öffentlichkeit. Die Fernsehsender RTL, der WDR und der MDR zeigten Berichte und Interviews, die dpa als größte deutsche Presseagentur schrieb einen Korrespondentenbericht und auch die türkische „Hürriyet“ schrieb einen Artikel auf ihrer Titelseite über den schrecklichen Ertrinkungstod meines Mannes und über meine Bittbrief-Kampagne an den Landrat. Dieser Artikel wurde nicht nur in Deutschland für die deutsche Ausgabe der „Hürriyet“ abgedruckt, sondern auch in der Türkei. Einige Tage danach rief mich die Dolmetscherin aus Alanya an und berichtete mir aufgeregt von dem Aufruhr, den ich durch die Berichte in den Medien verursacht hätte. Plötzlich wurde jegliche Schuld am Tod meines Mannes auf das Heftigste verneint. Wahrscheinlich befürchtete man, dass die Urlauber aufgrund der Berichterstattung- Alanya meiden würden. Die Folgen wären erhebliche finanzielle Einbußen für die gesamte Region. Kurze Zeit nach diesem Aufruhr wurden plötzlich am Strand Warnschilder in türkischer, deutscher, russischer und englischer Sprache mit folgendem Text aufgestellt: „Seien Sie bitte bei zu starken Strömungen extrem vorsichtig“, „Nach dem Genuss von Alkohol ist das Schwimmen gefährlich“, „Bei hohen Wellen und starkem Wind bitte nicht schwimmen“, „Bitte begleiten Sie ihre Kinder beim Schwimmen im Meer“. Die örtliche Presse lobte die Aktion und sprach von einem ermutigenden Anfang, um weitere Ertrinkungsopfer zu verhindern und deutete an, dass im nächsten Jahr noch mehr Schilder aufgestellt würden. Eine örtliche Zeitung schrieb: „Nach dem Aufstellen der Warnschilder wurden im Bereich Alanya keine Todesfälle durch Ertrinken registriert.“ Das kann meiner Ansicht nach jedoch nur ein kleiner Anfang sein. Der Tourismus in Alanya hat in den letzten Jahren rasant zugenommen und ist zu einem äußerst wichtigen Wirtschaftszweig geworden. Es müssen daher dringend Maßnahmen für die Sicherheit der Badegäste ergriffen werden, wie es in vielen Ländern üblich ist. Ausgebildete Rettungsschwimmer müssen an öffentlichen, zum Baden ausgewiesenen Strandabschnitten, täglich ihren Dienst tun. Als lebensrettende Ausrüstung müssen vorhanden sein: Hochsitz, Warnflagge, Notfallausrüstung (ganz wichtig: Defibrillator!), Auftriebskörper, Seile, Rettungsboot. Über das Internet habe ich mehrere betroffene Familien kennen gelernt, die im Urlaub ebenfalls einen Familienangehörigen durch Nachlässigkeit und Sorglosigkeit der Verantwortlichen am Urlaubsort verloren haben. Sie haben mir sehr durch ihr Zuhören und Anteilnahme in langen Telefongesprächen in dieser schweren Zeit geholfen. Einige von ihnen hatten den Verein gegründet „hilfebeireiseunfaellen.de“. Sie rieten mir,  Kontakt zu einem Rechtsanwalt in der Türkei aufzunehmen, der schon in mehreren ähnlich gelagerten Fällen tätig war. Nach reiflicher Überlegung habe ich vor einigen Monaten diesen Anwalt beauftragt und Klage wegen Verletzung der Verkehrssicherungspflicht durch die Gemeinde bzw. den türkischen Staat vor dem Gericht in Antalya eingereicht. Ich bin nämlich inzwischen davon überzeugt, dass sich nur durch den Druck einer gerichtlichen Auseinandersetzung etwas zum Positiven ändern wird. Bei uns in Deutschland habe ich mich der Organisation für Badesicherheit in Europa, Blausand.de, angeschlossen. Hier geht es in erster Linie um Prävention. Auch an deren  Aktion 100EACHDAY auf Formentera im Mai 2008 nahmen meine beiden erwachsenen Kinder und ich teil, malten uns blau an und ließen uns mit 97 Gleichgesinnten am Strand fotografieren. Vor einigen Monaten absolvierte ich einen „Ersthelferkurs“ beim Roten Kreuz, wo unter anderem gelehrt wird, wie man eine bewusstlose Person wiederbeleben kann. Als nächstes trainiere ich nun für das „Deutsche Rettungsschwimmerabzeichen“. Hier lerne ich in Theorie und Praxis, wie ein hilfloser Mensch im Wasser richtig abgeschleppt und an Land gebracht wird. Den Bronzeschein habe ich vor kurzem schon erworben, in meinem Alter keine leichte Angelegenheit. Der unnötige Ertrinkungstod meines Mannes wird mich für den Rest meines Lebens beschäftigen. Ich kann und werde deshalb nicht aufhören, mich für Präventionsmaßnahmen, wann und wo immer es mir möglich ist, einzusetzen.

Brigitte F.
Köln, den 05.08. 2008